Der Abbruch als Rechtsbruch?


Über das Thema Schwangerschaftsabbrüche wird derzeit wieder viel diskutiert: Nach einem Gutachten im Auftrag der Ampelregierung, liegt derzeit ein Gesetzesentwurf im Bundestag – auch der Rat der EKD positionierte sich. Grund genug empirisch fundiert auf das Thema zu blicken: Wie stehen die Deutschen zur Entkriminalisierung des Themas? Und welche Rolle spielt dabei die Religion? Veronika Eufinger, wissenschaftliche Referentin am SI, hat das getan und spricht hier über immer noch bestehende Unterschiede zwischen katholischen und protestantischen Gläubigen – und warum die „Polarisierung der Gesellschaft“ trotzdem ein Mythos ist.
Frau Eufinger, Sie haben sich mit der gesellschaftlichen Haltung im Bezug auf eine Reform der Gesetzgebung zum Schwangerschaftsabbruch beschäftigt: Was waren für Sie die eindrücklichsten Erkenntnisse?
Ich finde es bemerkenswert, dass es sich bei der Haltung zu Schwangerschaftsabbrüchen um eine Einstellung handelt, die stark von der eigenen religiösen Orientierung abhängt. Andere Faktoren – wie Geschlecht, Alter oder Einkommen – treten in dieser Frage gegenüber der Religionszugehörigkeit beziehungsweise der Konfessionslosigkeit als Erklärung in den Hintergrund. Hinzu kommt, dass wir gesamtgesellschaftlich ein sukzessives Abschmelzen der Unterschiede zwischen den christlichen Konfessionen auf Ebene der religiösen Praktiken und Glaubensinhalte ihrer Mitglieder beobachten. In der Haltung zur Abtreibung ist jedoch – trotz der insgesamt deutlichen mehrheitlichen Zustimmung zur uneingeschränkten Erlaubnis des Abbruchs innerhalb der ersten zwölf Wochen – nach wie vor eine Differenz zwischen Mitgliedern der evangelischen und katholischen Kirche deutlich.
„Unsere Studie hat gezeigt, dass die Menschen, aus dem katholisch geprägten Süden eine Position vertreten, die sich vom Bundesdurchschnitt abhebt.“
Was an Ihrer Studie ist neu?
Wir berücksichtigen die Großregionen Deutschlands als möglichen Erklärungsfaktoren für die Meinungsbildung. Es handelt sich dabei um die historisch gewachsenen regionalen Schwerpunkte der konfessionellen Verteilung, die erstmals in der sechsten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung Berücksichtigung fanden. Bereits bekannt war, dass die Menschen des postsozialistischen Ostens eine liberalere Einstellung zu Schwangerschaftsabbrüchen vertreten als die Bewohner:innen der alten Bundesländer. Allerdings hat unsere Studie gezeigt, dass auch die Menschen aus dem katholisch geprägten Süden eine Position vertreten, die sich vom Bundesdurchschnitt abhebt.
Inwiefern?
Kurz gesagt sind die Menschen dort im Schnitt weniger offen für die gesetzliche Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs. Dieser Effekt scheint so stark zu sein, dass sogar Konfessionslose ihre persönliche Einstellung eher an die sozialmoralischen und teils religiös hergeleiteten Werte ihrer Umgebung anpassen.
Wo herrscht Einigkeit?
Eines muss nachdrücklich unterstrichen werden: Wenn sich in einer repräsentativen Studie drei Viertel der Befragten in Deutschland für die grundsätzliche Erlaubnis des Abbruchs innerhalb der ersten zwölf Wochen aussprechen, ist das eine deutliche Mehrheit.
Was folgt daraus
Auf Grundlage der Daten können wir sagen: Die vermeintliche gesellschaftliche Polarisierung bei dem Thema ist ein Mythos.
„Es ist positiv herauszustellen, dass in dieser ethischen Frage eine Übereinstimmung zwischen den Mitgliedern der EKD und ihrer demokratisch gewählten Leitung besteht.“
Zuletzt hat sich auch der Rat der EKD zu dem Thema positioniert: Wie sehen Sie das vor dem Hintergrund Ihrer neuen Erkenntnisse.
Die Stellungnahme zur Regelung zum Schwangerschaftsabbruch – EKD hat sehr eindrücklich die reale Komplexität der Lage ungewollt schwangerer Personen aufgezeigt und sich für eine gesetzliche Neuregelung offen gezeigt. Diese Haltung deckt sich nicht nur mit der artikulierten Ansicht der Mehrheit der Bevölkerung, sondern auch mit der Mehrheit innerhalb der evangelischen Kirche. Somit ist positiv herauszustellen, dass in dieser ethischen Frage eine Übereinstimmung zwischen den Mitgliedern der EKD und ihrer demokratisch gewählten Leitung besteht.
Wo ist die Politik aus wissenschaftlicher Sicht jetzt zum Handeln aufgefordert?
Ich würde nicht aus jeder Mehrheit, die sich im Rahmen einer Meinungsumfrage zeigt, direktes politisches Handeln ableiten. Im vorliegenden Fall besteht jedoch eine Übereinstimmung zwischen dieser Bevölkerungsmehrheit, der interdisziplinären, aus 18 Expert*innen zusammengesetzten Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung, einem breiten zivilgesellschaftlichen Bündnis aus 26 Organisationen von ver.di bis Pro Familia – die einen ähnlichen Gesetzentwurf eingebracht hatten – sowie dem Rat der EKD als öffentliche Stimme einer der großen christlichen Kirchen. Diese einheitliche Front kann als unzweideutige Handlungsaufforderung an die Politik betrachtet werden.
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Jan Duensing
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