“Jede Arbeit hat ihre Würde”
Eduard Kopp interviewt Gerhard Wegner (01.2013, chrismon)
chrismon: “Arbeit ist Gottesdienst”, sagt Martin Luther. Für welche Arbeit gilt das denn heute?
Gerhard Wegner: Das gilt für jede Form von Arbeit. Es ist eine faszinierende Vision: Arbeit ist von Gott inspiriert und findet höchste Anerkennung
durch ihn.
chrismon: Arbeit als “heiligste Sache, durch die Gott erfreut wird und durch die er dir seinen Segen schenkt” – beim Knochenjob des Straßenbauers mag das noch passen. Aber auch bei der Klofrau?
Gerhard Wegner: Das gilt gerade für eine Klofrau. Sie tut etwas Wichtiges für andere. Gerade solche Tätigkeiten haben ihre eigene Würde.
chrismon: Es gibt genug Menschen, die in einem miesen Job stecken: Sollen sie sich einreden, dass alles nicht so schlimm ist?
Gerhard Wegner: Im Gegenteil! die Vision von der “Arbeit als Gottesdienst” ist ja gerade eine Kritik daran, dass manche Arbeit nicht angemessen gewürdigt wird. Weil auch die einfachsten Arbeiten bei Gott einen ganz hohen Wert haben, soll es selbstverständlich auch bei den Menschen so sein. Das bedeutet zuerst anständigen Lohn und gute Arbeitsbedingungen. Darin steckt eine deutliche Kritik an ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen, an schlechter Bezahlung und prekären Arbeitsbedingungen. Dagegen soll man kämpfen.
chrismon: Würden die Reformatoren heute für Mindestlöhne eintreten?
Gerhard Wegner: Ich glaube schon. Denn es gab auch damals für Handwerker Mindeststandards beim Lohn: Sie sollten sich und ihre Familie davon ernähren können. In vielen Berufen ist das heute nicht möglich. Denken Sie an eine allein erziehende Mutter, die als Friseusin arbeitet.
chrismon: Seit dem Bankencrash im Herbst 2008 steht die Moral der Banker auf dem Prüfstand. Ein urevangelisches Thema?
Gerhard Wegner: Es gab jedenfalls von Anfang an viel Kritik am aufkommenden Frühkapitalismus, zum Beispiel am Bankhaus der Fugger. Luther hat nie verstanden, wieso sie auf einmal immense Gewinne machten, sich das Geld sozusagen von selbst vermehrte. Da war für ihn der Leibhaftige am Werk, das war eine Verkehrung der von Gott gewollten Ordnung. Das kann man nicht 1:1 auf heute übertragen. Aber der Grundimpuls ist aktueller denn je.
chrismon: Wenn Protestanten die Erwerbsarbeit so hoch werten, ihr eine besondere Würde zusprechen – wie steht es dann um Menschen, die erwerbslos sind?
Gerhard Wegner: Die urevangelische Idee ist: Jeder Mensch sollte arbeiten, weil er in der Arbeit ein wenig an Gottes Schöpfung mitwirkt. Deshalb entfaltet sich in der Arbeit die Berufung des Menschen. Auf heute übertragen: Die Gesellschaft ist verpflichtet dafür zu sorgen, dass jeder arbeiten kann. Jeder hat eine Gabe von Gott bekommen. Sie wird verschwendet, wenn jemand keine Möglichkeit zum Arbeiten hat.
chrismon: Wo bleibt die Würde der Arbeit, wenn in Bangladesch Frauen und Kinder für europäische Textilketten Hosen und T-Shirts zusammennähen, die hier für wenige Euro über den Ladentisch gehen?
Gerhard Wegner: Oft ist dies für die Betroffenen die einzige Chance überhaupt Geld zu verdienen. Es hängt an uns, dass wir Produkte kaufen, die unter fairen Bedingungen hergestellt werden. Jeder kann sich darüber informieren.
chrismon: Gibt es eine Sehnsucht nach ehrlicher Arbeit, nach Arbeit mit Sinn?
Gerhard Wegner: Ja, die gibt es. Die Allermeisten wollen ihre Arbeit gut machen und ihre Fähigkeiten anwenden können. Z.B. einen Kunden fachlich gut bedienen und ihn nicht etwa nur über den Tisch ziehen. Oder in der Pflege: Sich auf den Patienten wirklich einstellen. Wenn das aber wegen Zeitdruck und wirtschaftlichen Zwängen nicht gemacht werden kann, dann erzeugt es Unzufriedenheit schlägt schlimmstenfalls sogar auf die Gesundheit der
Arbeitenden zurück. Arbeit unter dauerndem Druck macht krank.
chrismon: Dann ist die Kritik von Karl Marx an entfremdeter Arbeit noch gar nicht erledigt?
Gerhard Wegner: Wir haben heute in vielen Berufen viel mehr Möglichkeiten der Selbstbestimmung, als Marx sich vorstellte. Vielfach ist die Arbeit auch kreativer geworden. Gleichzeitig erhöhen sich aber ständig die Vorgaben für das, was man schaffen muss. Mehr Freiheit führt zu mehr Druck: die neue Form der Entfremdung.
Fragen: Eduard Kopp